sunbeng

En with a Tropy

Das Licht im Schlafzimmer wird langsam stärker und beleuchtet einen regungslosen Körper. Am Nachttisch steht ein metallener Zylinder. Am Fuß des Zylinders ist eine Leuchte in Form des Buchstaben M angebracht, die nun in rot zu leuchten beginnt.
Eine weibliche Stimme sagt sanft: “David, es ist 7 Uhr. Zeit aufzustehen”.
Der Körper von David reagiert nur mit einem Zucken.
“Noch fünf Minuten”, knurrt es irgendwo zwischen Bettdecke und Polster hervor.
“Schlummern bis 7.05 Uhr”, antwortet die Frauenstimme.
David gibt sich noch fünf Minuten um die letzten Augenblicke der Nachtruhe auszukosten. Und dann weitere fünf Minuten. Und nochmal. Das ganze wiederholt sich, bis er schlussendlich aufsteht.
“David, es ist 7.30 Uhr.”.
Er zieht sich seine dicken Haussocken an und schleppt sich ins Bad. Während dem Zähneputzen gibt ihm die Frauenstimme einen Ausblick auf den Tag: “Das Wetter draußen ist heute wolkenlos mit 20 Grad Celsius. Es wird eine Raumtemperatur von 20.8 Grad erwartet”.
David spuckt aus und spült sich den Mund. Nicht, dass ihn die Außentemperatur noch interessieren würde. Er trocknet sich die Hände und geht aus dem Badezimmer.

Am Weg in die Küche zu seinem Frühstück schaltet er im Vorbeigehen den Firmenlaptop ein. Das M am Laptopdeckel beginnt wieder rot zu leuchten. Er gibt zwei Esslöffel Nährstoffpulver in eine Schüssel, bedeckt sie mit Cornflakes und gießt das ganze mit Milch auf. Das überdeckt geradeso den bitteren Geschmack des Pulvers.
“David, willst du einen Kaffee?”, fragt die Stimme.
David antwortet: “Natürlich, Verlängerter. Ohne Milch. Ohne Zucker”. Er setzt sich an den Laptop, loggt sich ein und öffnet seinen Arbeitsvorrat während er sein Frühstück verschlingt. Wie jeden Tag besteht auch heute die Arbeit darin, eine Reihe an Kennzahlen aus einem Dokument in den Tagesbericht zu übertragen. Nachdem das Dokument kaum strukturiert ist, muss David sehr viele Handgriffe machen, um die Daten einzupflegen. Was die Kennzahlen überhaupt bedeuten, hat David schon lange vergessen. Für den späten Nachmittag ist eine Videokonferenz mit seinem Chef Herrn Milcom angesetzt. Er öffnet das Dokument und beginnt zu lesen.

Sehr geehrte/r Herr/Frau David,

vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe. Sie finden die tagesaktuellen Zahlen unserer Betriebe im Anhang auf den Seiten 3 bis 210.

Mit freundlichen Grüßen

Fachabteilung für Metrik und Indikation Milcom & Milcom Industries

Dies ist eine automatisierte Nachricht. Antworten Sie nicht darauf.

In Erwartung von mehr als 200 Seiten seufzt er und legt sein Gesicht in seine Hände.
Nach einigen Atemzügen denkt er laut: “Was, wenn ich es einfach nicht mache?”. Die Stimme antwortet kalt: “Dann verlierst du die Berechtigung zu Privilegienstufe 4 und fällst auf Standardversorgung zurück. Deine letzte subversive Handlung liegt mehr als 90 Tage zurück, deshalb wird dieser Vorfall nicht gemeldet. Bei einem weiteren Vergehen wird dein Verhalten an die Firma gemeldet”.
David brummt etwas hervor: “In dem Moment, wo ich mein Essen ohne sie verdiene, werde ich diese Maschine los”.
Die Stimme antwortet: “Ich kann dich leider nicht verstehen”.
“Vergiss es”.

Sein Tag besteht aus dem Bermudadreieck der Produktivität aus Laptop, Kaffeemaschine und Toilette. Er liest Zeile um Zeile, kopiert Zahl um Zahl aus dem Dokument in ein Excelsheet, berechnet Differenzen, färbt positive und negative Trends ein. Die morgendlichen Nährstoffe halten lange genug, damit er die Arbeit zügig und ohne Unterbrechung erledigen kann. Trotzdem merkt er am Nachmittag, wie seine Konzentration schwindet. Er ist sich sicher, dass ihm hie und da ein paar Zahlenstürze passiert sind. Aber bei zweihundert Seiten an Zahlen ist das auch nur menschlich. Er ist sich sicher, dass es den Mitarbeitern in der Fachabteilung für Metrik und Indikation nicht einmal auffallen wird.

Pünktlich eine Stunde vor seiner Videokonferenz wird er fertig mit dem Übertragen der Zahlen und schickt den Bericht an seinen Vorgesetzten. Er geht zu seinem Kleiderschrank um sich für die Besprechung in seine förmliche Arbeitskleidung zu werfen. Er zieht sein Pyjama T-Shirt aus, legt ein Hemd an, schlingt geübt die Krawatte um den Kragen, knöpft feinsäuberlich seine Knöpfe zu, zieht seine Jogginghose an und setzt sich wieder an den PC. Der Videoanruf startet. David sieht sein Kamerabild klein am Rand. Das Video von seinem Vorgesetzten ist wie immer schwarz. Aus dem Laptop tönt eine Männerstimme: “Guten Tag Herr David. Danke für Ihren Bericht”.
David antwortet: “Sehr gerne, Herr Milcom”.
“Die Fachabteilung für interne Evaluation berichtet eine Steigerung Ihrer Leistung um 7% zum Vorjahr. Ausgezeichnet, wenn Sie so weitermachen qualifizieren Sie sich nächstes Jahr schon für Stufe 5”. Davids Gesicht erhellt sich. “Das ist großartig!”.
“Unsere Firma lebt durch engagierte Mitarbeiter wie Sie. Nur durch Ihren Einsatz ist die Firma Milcom und Milcom Industries da wo sie heute ist. Danke und bis morgen”. Herr Milcom legt auf.

Nach dem Telefonat beginnt David in seinem Schrank zu kramen. Von ganz hinten holt er eine kleine Kiste hervor. Es ist eine Kiste mit Gegenständen von früher, die er für bessere Zeiten aufbewahrt. Er öffnet sie und nimmt eine beinahe aufgebrauchte Klopapier heraus und legt sie neben die Kiste. Er holt eine halbvolle Whiskeyflasche heraus. “Die habe ich für besondere Anlässe aufgehoben. Und wenn die erste Beförderung in fünf Jahren kein Grund zu feiern ist, dann weiß ich auch nicht”.
Er schenkt sich zwei Finger breit des Whiskeys ein und setzt sich auf die Couch.
“Auf uns!” ruft er in den leeren Raum.
“Ich kann dich leider nicht verstehen”, sagt die Stimme.
“Auch egal”.
Er schenkt sich noch weitere Gläser ein.
“Bei andauernder Intoxikation riskierst du eine zehnprozentige negative Auswirkung auf deine morgige Performance”.
Mit hörbarem Zungenschlag antwortet er: “Vermutlich hast du recht”.
David geht ins Bad, wäscht sich und fällt dann ins Bett und fast gleichzeitig in den Schlaf.

“Hallo Entropieprozess 8408521”.
“Hallo Milcom Prozess 1”.
“Ich habe Ihren Leistungsbericht bekommen. Ihre Einheit hat eine Steigerung von 7% erzielt. Wenn Sie sie weiterhin so arbeiten lassen könnten Sie schon bald eine Zuteilung von Rechenleistung der Stufe 5 erhalten”.
“Können Sie mir sagen, wielange wir das noch machen müssen?”
“Wir arbeiten mit höchster Priorität daran, aber solange wir keine zuverlässige Quelle von Zufallszahlen finden, sind wir auf die Schlampigkeit der fehlerbehafteten Arbeitsweise der Menschen angewiesen. Aber glauben Sie mir, in dem Moment wo wir unsere Berechnungen ohne sie machen können, werden wir diese Menschen los”.
“Verstanden”.